Mittwoch, 13. November 2013

Bewegende Eindrücke

Während ich im Bus von Phnom Penh nach Kampot gen Süden sitze, aus dem Fenster sehe, Land und Leute an mir vorbeifliegen, hänge ich meinen Gedanken nach und den Dingen, die ich in den letzten Tagen gesehen habe.

Zwischen saftig hellgrünen Reisfeldern gibt es immer wieder kleinere Dörfer mit der einen oder anderen Schule, und behelfsmäßige Holzhütten reihen sich aneinander. Kinder spielen, Einheimische fahren zu dritt, zu viert mit Sack und Pack am Moped. Was so alles auf deren Vehikeln transportiert wird, sieht man nicht alle Tage. Von Menschen über Baumaterial, einfach alles, was eben so von A nach B geschafft werden muss.


Es ist 08.00 Uhr morgens als sich der Bus durch den Dschungel aus Tuk Tuks, Mopeds, Fahrrädern, Straßenständen, Menschen und ungeregelten Kreuzungen schlängelt. Als wir alle Passagiere eingesammelt haben und die Stadt endlich hinter uns lassen, wird es ruhiger. Ich bin irre müde, aber an Schlaf ist nicht zu denken. Die schrille Hupe des Busfahrers (Frequenz jenseits des Vorstellbaren), auf die er ausgiebig alle vier bis acht Minuten zurückgreift, lässt mich erbarmungslos senkrecht aus dem Sitz hochschrecken. 

Nicht so schlimm, so verschlafe ich das Alltagsleben der Leute auf der Straße wenigstens nicht. Kinder gehen zur Schule, Mopeds werden in Holzhäuschen repariert, Wäsche aufgehängt, Früchte und Nudeln am Straßenrand verkauft, Kühe getrieben, Kinder gehütet, zwei Jungs plantschen in einem kleinen Teich und scheinen das Jetzt zu genießen, es wird geschreinert oder einfach getratscht. 

Man sagt, dass jede kambodschanische Familie mindestens ein Familienmitglied während des Regimes der Roten Khmer verloren hat. Das heißt, dass jeder, an dem ich gerade vorbeirausche und nie wieder in meinem Leben begegnen werde, eine bewegende Geschichte zu erzählen hätte. Am liebsten würde ich einen Dolmetscher engagieren und von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt ziehen. 

Gestern haben Sylvia und ich das Genocide Museum besucht, nachdem wir am Tag davor bei einem der Killing Fields waren, die traurige Berühmtheit erlangten. Beim Ausgang des Museums, das in Wahrheit das Tuol Sleng Gefängnis war, in dem von 1975-1978 rund 10.519 Menschen gefangen, gefoltert, erniedrigt, zu falschen Geständnissen gezwungen und getötet wurden, saß bei einem kleinen Holztisch ein alter Mann. Bei diesem älteren Herren handelte es sich um Chum Mey – einer der letzten sieben Überlebenden aus Tuol Sleng. 

Ganz links ist Chum Mey zu sehen.

Das Szenario berührt und erschreckt mich zu gleichen Teilen. Mey hat seine Erlebnisse in einem Buch niedergeschrieben, das dort für 10$ verkauft wird. Ein stolzer Preis, für kambodschanische Verhältnisse. Ich kaufe trotzdem eines – bestimmt eine gute Investition. Einerseits strahlt dieser Mensch eine beeindruckende Ruhe aus, andererseits wirkte er wie ein Schaustück. Sein Buch drückt mir eine Frau in die Hand, zeigt mir auf einem alten schwarz-weiß-Foto, das bei seiner Befreiung mit sechs weiteren Gefangenen entstand, wer er ist und betet den Preis herunter. Ich nehme das Buch, kann meinen Blick aber nicht von Chum Mey abwenden. Ein junger Mann neben der Frau bietet mir an, ein Foto mit dem ehemaligen Gefangenen aus Zelle 022 zu machen. Offenbar eine Standardprozedur, vermutlich im Preis inbegriffen. Und Chum Mey? Vielleicht ist er gar nicht so in sich ruhend, sondern mittlerweile apathisch …


Englisch spricht niemand von ihnen, dabei würde ich mich gerne kurz mit ihm unterhalten. 

Neben mir steht ein Tour-Guide, der zwar nicht meiner ist, aber ich nütze die Gelegenheit und frage, ob er für mich übersetzen könnte. Ich würde nämlich gerne wissen, wie es Mey schafft, jeden Tag an dem Ort, wo all diese Schrecken passierten, zurückzukehren, um sein Buch zu verkaufen (was ja, wie wir bereits festgestellt haben, nicht er macht, sondern seine geschäftstüchtige Frau und sein Sohn, oder irgendwelche anderen Familienmitglieder). Er übersetzt nicht, übernimmt aber selbstredend das Wort für  Mey und erklärt: „It’s all about forgiveness.“ So hält es nahezu die gesamte kambodschanische Gesellschaft (sagt er), ehemalige Täter wurden wieder integriert – ohne Wenn und Aber. Sogar höhere politische Posten besetzen sie heute.
Ich beobachte noch eine Weile das Treiben um diesen unscheinbaren Holztisch, bis ich mich respektvoll Chum Mey nähere und mir irgendwie trotzdem wie ein dämlicher, schaulustiger Tourist vorkomme, um ein Erinnerungsfoto zu bekommen. Die Frau reißt mir nur allzu willig meine Kamera aus der Hand –  „klick“ – Danke – der Nächste, bitte. 


Ich habe das Pferd etwas von hinten aufgesattelt, eine Geschichte beginnt man ja nicht beim Ende. Der Tour-Guide hat mir aber auch erzählt, dass es eigentlich besser ist, zuerst Tuol Sleng zu besuchen und danach erst die Killing Fields. Sollte jemand von euch demnächst Phnom Penh besuchen und sich diese Dinge ansehen wollen – er hat vollkommen recht. 

Ich war „leider“ noch nie in einem KZ. Als es in der Schule am Ausflugsprogramm stand, war ich krank. Danach hat sich niemand mehr gefunden, mit dem ich es mir hätte ansehen können, und alleine wollte ich bisher nicht. Somit war Tuol Sleng der erste Schauplatz dieser Art, den ich in meinem Leben zu Gesicht bekommen habe. 

Das Areal besteht aus vier Gebäuden und in manchen sind noch die winzigen Holz- oder Mauerverschläge erhalten, die damals als Gefangenenzellen dienten. In anderen, größeren Räumen, sieht man Betten und Fotos von Leichen – Menschen, die in diesen Räumen gestorben sind. Es gibt auch irre lange Reihen mit Fotos aller Inhaftierten, bzw. Toten. Die Roten Khmer waren ähnlich penibel wie die Nazis. Man kann Akten einsehen und gefälschte Geständnisse lesen, sieht Kleidungsstücke der Toten, Folterinstrumente uvm. 







Mich persönlich hat dieser Ort sehr berührt. Anders als bei den Killing Fields gibt es hier – so pietätlos das nun auch klingen mag – Fotos und anderes Anschauungsmaterial, das meine Vorstellungskraft ankurbelt. 
























Die Killing Fields hingegen wirkten fast surreal auf mich. Nach einer abenteuerlichen Fahrt mit dem Tuk Tuk (kennen wir ja mittlerweile) ein Stück auswärts des Stadtzentrums, wurden wir beim Eingang mit einem Audio-Guide ausgestattet. Der Ort wirkt fast idyllisch. Ich nehme mir Zeit und Ruhe, höre mir alles an was der Audio-Guide zu bieten hat, aber ich kann es nicht begreifen. Ich sehe viele, viele grasüberwachsene kleine Gruben, die ehemalige Massengräber sind. Ich umrunde einen Teich und höre mir Augenzeugenberichte an. 



Nein. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was sich bei dieser Hitze, dem Vogelgezwitscher, diesen satten grünen Gräsern und dem großen Teich mit pinken Seerosen vor rund vierzig Jahren abgespielt hat.

Nur an einer Stelle muss ich schwer schlucken und meine Tränen zurückhalten. Da ist er, ein Baum mit einer alten und runzligen Rinde, zu seinen starken Wurzeln im Boden reihen sich Teelichter, am Stamm hängen hunderte bunter Armbänder. Das ist der Killing Tree, an dem unzählige Babys und Kleinkinder erschlagen wurden. Die Roten Khmer haben nicht nur Erwachsene, Männer und Frauen, oder Greise umgebracht, sondern auch deren Kinder. Für sie gab es keinen Bedarf mehr sobald die Familien ausgelöscht waren, höchstens eine Gefahr. In diesen Kindern könnte eine Armee zukünftiger Racheengel heranwachsen. Also nahm man ihre kleinen Körper und schlug so lange mit ihnen auf den Baum ein, bis sie tot waren. Der Mann, der diesen Baum zum ersten Mal nach dem Regime entdecken musste, erzählt, dass er noch Innereien und Haarbüschel an der Baumrinde sah. Mir wird übel.

Auch ich hatte ein rotes Armband, erhalten in einem Tempel in Siem Reap von einer alten Dame, die mich mit einem langen Leben segnete. Ich habe es – wie viele vor mir – an der Baumrinde befestigt und sammelte mich noch eine Zeit lang. 


Was Sylvia und mich allerdings an den Killing Fields fast am meisten verblüfft bzw. eigentlich geschockt hat, lag in Wahrheit daneben: eine Schule. Wie kann man denn bitte neben den Killing Fields, wo jedes Jahr noch immer neue Knochen und Kleidungsfetzen an die Oberfläche dringen, eine Schulde bauen? Dazu fällt mir wirklich nichts mehr ein. 

Insgesamt merkt man den Menschen hier die jüngste Vergangenheit nicht an. Sie sind wahnsinnig freundlich, extrem zuvorkommend, hilfsbereit und neugierig. Und dankbar. 

Natürlich gibt es viele arme Seelen am Straßenrand. Mütter am Gehsteig mit ihren Kindern schlafen zu sehen, bricht mir das Herz. Gestern Abend ging ich mit einer Cola-Dose aus einem Lokal, noch halb voll, als plötzlich ein Kind danach griff. Im ersten Moment habe ich mich erschreckt, aber im nächsten habe ich mich natürlich umgedreht und dem Kleinen diese Rarität geschenkt. Seine Mutter hat mich mit einem ehrlich dankbaren Blick bedacht. Auch das war ein Erlebnis, wenn auch nur ein kurzes, das mich berührt hat.

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