Zwischen saftig hellgrünen Reisfeldern gibt es immer wieder
kleinere Dörfer mit der einen oder anderen Schule, und behelfsmäßige Holzhütten
reihen sich aneinander. Kinder spielen, Einheimische fahren zu dritt, zu viert
mit Sack und Pack am Moped. Was so alles auf deren Vehikeln transportiert wird,
sieht man nicht alle Tage. Von Menschen über Baumaterial, einfach alles, was
eben so von A nach B geschafft werden muss.
Es ist 08.00 Uhr morgens als sich der Bus durch den
Dschungel aus Tuk Tuks, Mopeds, Fahrrädern, Straßenständen, Menschen und
ungeregelten Kreuzungen schlängelt. Als wir alle Passagiere eingesammelt haben
und die Stadt endlich hinter uns lassen, wird es ruhiger. Ich bin irre müde,
aber an Schlaf ist nicht zu denken. Die schrille Hupe des Busfahrers (Frequenz
jenseits des Vorstellbaren), auf die er ausgiebig alle vier bis acht Minuten
zurückgreift, lässt mich erbarmungslos senkrecht aus dem Sitz hochschrecken.
Nicht so schlimm, so verschlafe ich das Alltagsleben der
Leute auf der Straße wenigstens nicht. Kinder gehen zur Schule, Mopeds werden
in Holzhäuschen repariert, Wäsche aufgehängt, Früchte und Nudeln am Straßenrand
verkauft, Kühe getrieben, Kinder gehütet, zwei Jungs plantschen in einem
kleinen Teich und scheinen das Jetzt zu genießen, es wird geschreinert oder
einfach getratscht.
Man sagt, dass jede kambodschanische Familie mindestens ein
Familienmitglied während des Regimes der Roten Khmer verloren hat. Das heißt,
dass jeder, an dem ich gerade
vorbeirausche und nie wieder in meinem Leben begegnen werde, eine bewegende
Geschichte zu erzählen hätte. Am liebsten würde ich einen Dolmetscher
engagieren und von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt ziehen.
Gestern haben Sylvia und ich das Genocide Museum besucht,
nachdem wir am Tag davor bei einem der Killing Fields waren, die traurige
Berühmtheit erlangten. Beim Ausgang des Museums, das in Wahrheit das Tuol
Sleng Gefängnis war, in dem von 1975-1978 rund 10.519 Menschen gefangen,
gefoltert, erniedrigt, zu falschen Geständnissen gezwungen und getötet wurden,
saß bei einem kleinen Holztisch ein alter Mann. Bei diesem älteren Herren
handelte es sich um Chum Mey – einer der letzten sieben Überlebenden aus Tuol
Sleng.
Ganz links ist Chum Mey zu sehen. |
Das Szenario berührt und erschreckt mich zu gleichen Teilen.
Mey hat seine Erlebnisse in einem Buch niedergeschrieben, das dort für 10$
verkauft wird. Ein stolzer Preis, für kambodschanische Verhältnisse. Ich kaufe
trotzdem eines – bestimmt eine gute Investition. Einerseits strahlt dieser
Mensch eine beeindruckende Ruhe aus, andererseits wirkte er wie ein Schaustück.
Sein Buch drückt mir eine Frau in die Hand, zeigt mir auf einem alten
schwarz-weiß-Foto, das bei seiner Befreiung mit sechs weiteren Gefangenen
entstand, wer er ist und betet den Preis herunter. Ich nehme das Buch, kann
meinen Blick aber nicht von Chum Mey abwenden. Ein junger Mann neben der Frau
bietet mir an, ein Foto mit dem ehemaligen Gefangenen aus Zelle 022 zu machen. Offenbar
eine Standardprozedur, vermutlich im Preis inbegriffen. Und Chum Mey? Vielleicht
ist er gar nicht so in sich ruhend, sondern mittlerweile apathisch …
Englisch spricht niemand von ihnen, dabei würde ich mich gerne
kurz mit ihm unterhalten.
Neben mir steht ein Tour-Guide, der zwar nicht meiner ist,
aber ich nütze die Gelegenheit und frage, ob er für mich übersetzen könnte. Ich
würde nämlich gerne wissen, wie es Mey schafft, jeden Tag an dem Ort, wo all
diese Schrecken passierten, zurückzukehren, um sein Buch zu verkaufen (was ja,
wie wir bereits festgestellt haben, nicht er macht, sondern seine
geschäftstüchtige Frau und sein Sohn, oder irgendwelche anderen
Familienmitglieder). Er übersetzt nicht, übernimmt aber selbstredend das Wort
für Mey und erklärt: „It’s all about forgiveness.“
So hält es nahezu die gesamte kambodschanische Gesellschaft (sagt er),
ehemalige Täter wurden wieder integriert – ohne Wenn und Aber. Sogar höhere
politische Posten besetzen sie heute.
Ich beobachte noch eine Weile das Treiben um diesen
unscheinbaren Holztisch, bis ich mich respektvoll Chum Mey nähere und mir
irgendwie trotzdem wie ein dämlicher, schaulustiger Tourist vorkomme, um ein
Erinnerungsfoto zu bekommen. Die Frau reißt mir nur allzu willig meine Kamera
aus der Hand – „klick“ – Danke – der
Nächste, bitte.
Ich habe das Pferd etwas von hinten aufgesattelt, eine
Geschichte beginnt man ja nicht beim Ende. Der Tour-Guide hat mir aber auch
erzählt, dass es eigentlich besser ist, zuerst Tuol Sleng zu besuchen und
danach erst die Killing Fields. Sollte jemand von euch demnächst Phnom Penh
besuchen und sich diese Dinge ansehen wollen – er hat vollkommen recht.
Ich war „leider“ noch nie in einem KZ. Als es in der Schule
am Ausflugsprogramm stand, war ich krank. Danach hat sich niemand mehr gefunden,
mit dem ich es mir hätte ansehen können, und alleine wollte ich bisher nicht. Somit
war Tuol Sleng der erste Schauplatz dieser Art, den ich in meinem Leben zu
Gesicht bekommen habe.
Das Areal besteht aus vier Gebäuden und in manchen sind noch
die winzigen Holz- oder Mauerverschläge erhalten, die damals als Gefangenenzellen
dienten. In anderen, größeren Räumen, sieht man Betten und Fotos von Leichen –
Menschen, die in diesen Räumen gestorben sind. Es gibt auch irre lange Reihen
mit Fotos aller Inhaftierten, bzw. Toten. Die Roten Khmer waren ähnlich penibel
wie die Nazis. Man kann Akten einsehen und gefälschte Geständnisse lesen, sieht
Kleidungsstücke der Toten, Folterinstrumente uvm.
Mich persönlich hat dieser Ort sehr berührt. Anders als bei
den Killing Fields gibt es hier – so pietätlos das nun auch klingen mag – Fotos
und anderes Anschauungsmaterial, das meine Vorstellungskraft ankurbelt.
Die Killing Fields hingegen wirkten fast surreal auf mich. Nach
einer abenteuerlichen Fahrt mit dem Tuk Tuk (kennen wir ja mittlerweile) ein
Stück auswärts des Stadtzentrums, wurden wir beim Eingang mit einem Audio-Guide
ausgestattet. Der Ort wirkt fast idyllisch. Ich nehme mir Zeit und Ruhe, höre
mir alles an was der Audio-Guide zu bieten hat, aber ich kann es nicht
begreifen. Ich sehe viele, viele grasüberwachsene kleine Gruben, die ehemalige
Massengräber sind. Ich umrunde einen Teich und höre mir Augenzeugenberichte an.
Nein. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was
sich bei dieser Hitze, dem Vogelgezwitscher, diesen satten grünen Gräsern und
dem großen Teich mit pinken Seerosen vor rund vierzig Jahren abgespielt hat.
Nur an einer Stelle muss ich schwer schlucken und meine
Tränen zurückhalten. Da ist er, ein Baum mit einer alten und runzligen Rinde,
zu seinen starken Wurzeln im Boden reihen sich Teelichter, am Stamm hängen
hunderte bunter Armbänder. Das ist der Killing Tree, an dem unzählige Babys
und Kleinkinder erschlagen wurden. Die Roten Khmer haben nicht nur Erwachsene,
Männer und Frauen, oder Greise umgebracht, sondern auch deren Kinder. Für sie
gab es keinen Bedarf mehr sobald die Familien ausgelöscht waren, höchstens eine
Gefahr. In diesen Kindern könnte eine Armee zukünftiger Racheengel
heranwachsen. Also nahm man ihre kleinen Körper und schlug so lange mit ihnen
auf den Baum ein, bis sie tot waren. Der Mann, der diesen Baum zum ersten Mal
nach dem Regime entdecken musste, erzählt, dass er noch Innereien und
Haarbüschel an der Baumrinde sah. Mir wird übel.
Auch ich hatte ein rotes Armband, erhalten in einem Tempel
in Siem Reap von einer alten Dame, die mich mit einem langen Leben segnete. Ich
habe es – wie viele vor mir – an der Baumrinde befestigt und sammelte mich noch
eine Zeit lang.
Was Sylvia und mich allerdings an den Killing Fields fast am
meisten verblüfft bzw. eigentlich geschockt hat, lag in Wahrheit daneben: eine
Schule. Wie kann man denn bitte neben den Killing Fields, wo jedes Jahr noch
immer neue Knochen und Kleidungsfetzen an die Oberfläche dringen, eine Schulde
bauen? Dazu fällt mir wirklich nichts mehr ein.
Insgesamt merkt man den Menschen hier die jüngste
Vergangenheit nicht an. Sie sind wahnsinnig freundlich, extrem zuvorkommend, hilfsbereit
und neugierig. Und dankbar.
Natürlich gibt es viele arme Seelen am Straßenrand. Mütter
am Gehsteig mit ihren Kindern schlafen zu sehen, bricht mir das Herz. Gestern
Abend ging ich mit einer Cola-Dose aus einem Lokal, noch halb voll, als
plötzlich ein Kind danach griff. Im ersten Moment habe ich mich erschreckt,
aber im nächsten habe ich mich natürlich umgedreht und dem Kleinen diese
Rarität geschenkt. Seine Mutter hat mich mit einem ehrlich dankbaren Blick
bedacht. Auch das war ein Erlebnis, wenn auch nur ein kurzes, das mich berührt
hat.
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